Zeitgeist
Sneaker – Auf heissen Sohlen
Sie sind viel mehr als bequeme und modische Turnschuhe. Neben Konsumenten und Herstellern mischen Grössen aus Sport und Show, Sammler und Spekulanten auf dem Milliardenmarkt für Sneaker mit.
Vor 20 Jahren ging eine der grössten Sportlerkarrieren aller Zeiten zu Ende: Am 16. April 2003 bestritt Michael »Air« Jordan sein letztes Spiel in der nordamerikanischen Basketballliga NBA. Bei der Niederlage seiner Washington Wizards gegen die Philadelphia 76ers warf der damals 40-Jährige 15 Punkte. »Basketball war mein Leben«, sagte Jordan nach der Schlusssirene. Mit den Chicago Bulls hatte er sechs NBA-Meisterschaften gewonnen. Fünfmal war Jordan zum wertvollsten Spieler (MVP) gewählt worden. Bis heute gilt der Superstar für viele als einer der Grössten, wenn nicht sogar der Besten seines Fachs. Gleichzeitig prägt der seit kurzem 60-Jährige einen globalen Modetrend. Mit dem Sneaker-Label »Air Jordan« räumt Nike gross ab. Der weltgrösste Sportartikelkonzern arbeitet seit 1984 mit Jordan zusammen. In der aktuellen Hollywood-Produktion »Air – der grosse Wurf« wird die Entstehung dieser einzigartigen Partnerschaft nachgezeichnet.
Gebraucht und neu begehrt
Fast zeitgleich mit dem Kinostart erreichte der Hype um die Schuhe der Sportlegende einen neuen Höhepunkt. Ein Paar Basketball-Sneakers, die Jordan vor einem Vierteljahrhundert bei einem NBA-Finalspiel getragen hatte, wurde im April bei Sotheby’s für eine Rekordsumme von 2,2 Millionen US-Dollar versteigert. Nach Angaben des Auktionshauses lag der Preis damit um 700.000 US-Dollar über dem bisherigen Spitzenbetrag für Schuhwerk, mit dem die Ikone ein Spiel absolviert hatte. Sogar 10,1 Millionen US-Dollar liess sich ein Käufer im vergangenen Jahr ein »game worn«-Trikot von Michael Jordan kosten – die bisher höchste Summe für in Wettkämpfen benutzte Sportkleidungsstücke.
Nicht nur der Markt für die sogenannten Memorabilien brummt. Auch für ungetragene Sneaker zahlen Sammler, Konsumenten und Spekulanten enorme Summen. Längst stellen die Hersteller neue Modelle nicht einfach nur ins Regal der Detailhändler oder bieten sie im Internet feil. Häufig heizen sie mit »Raffles« die Nachfrage zusätzlich an. Im Rahmen einer solchen Verlosung werden Kaufrechte für eine limitierte Stückzahl an Turnschuhen vergeben.
Auffällige Parallelen
Besonders gefragt sind Modelle, bei denen Stars aus dem Showbizz mitmischen. Beispielsweise hat Nike im April einen von US-Rapper Travis Scott mitgestalteten Air-Jordan-Damenschuh im Retro-Style lanciert. Kurz nach dem Raffle wurde das Produkt auf diversen Wiederverkaufsplattformen für ein Vielfaches des ursprünglichen Preises von umgerechnet knapp 160 Schweizer Franken angeboten. Dieser Hype dürfte so manchen Anleger an die Zeit der Dotcom-Blase erinnern. Um die Jahrtausendwende rissen sich Anleger regelrecht um die Aktien von Börsendebütanten, um nach dem IPO möglichst grosse Zeichnungsgewinne abzugreifen. Wie damals ist auch heute Vorsicht geboten: Nicht nur, dass bei den Sneakern enorme Übertreibungen im Markt sind. Gerade im Wiederverkauf versuchen Betrüger, mit Imitaten (Fakes) vom Boom zu profitieren.
Infos aus erster Hand
Spezialisierte Medien verfolgen sowohl die Schattenseiten als auch die positiven Entwicklungen in diesem Markt. Seit mehr als 20 Jahren leistet »Sneaker Freaker« Aufklärungsarbeit. »Ich wollte, dass Nike und adidas mir kostenlose Schuhe schicken«, blickt Simon »Woody« Wood zurück. 2002 hat der Australier zu diesem Zweck ein Footwear-Magazin ins Leben gerufen. Heute ist »Sneaker Freaker« weltweit bekannt. Neben einem mittlerweile in der 48. Ausgabe erschienenen Printmagazin zählen Sonderausgaben, Bücher und ein mit Informationen zur Sneakerszene prall gefülltes Internetportal zum Unternehmen. Seit 2006 stellt »Sneaker Freaker« seine Kreativität gemeinsam mit namhaften Schuhherstellern wie Puma, Asics oder Nike unter Beweis. Neben Sneakern sind Uhren, Kopfhörer und sogar Fahrräder aus solchen Kollaborationen hervorgegangen.
Wachstum mit Roger Federer
Interessante Ergebnisse ergibt eine Suche auf sneakerfreaker.com unter dem Schlagwort »Federer«. Aus gutem Grund: Der pensionierte Tennisprofi ist das Gesicht und zugleich ein Aktionär der On Holding. Unter anderem mit der Kollektion »The Roger« mischt der Zürcher Schuhhersteller den rund 745 Milliarden US-Dollar schweren Weltmarkt für Sneaker auf. Das Wachstum ist beachtlich: 2022 hat On Holding beim Umsatz erstmals die Marke von 1 Milliarde Schweizer Franken überschritten. Ausgehend von den verbuchten 1,2 Milliarden Schweizer Franken möchte das Management des in New York kotierten Unternehmens die Erlöse in der laufenden Periode um mindestens 500 Millionen Schweizer Franken ausbauen.
Federer spannte 2019 mit On Holding zusammen. Nahezu ein Vierteljahrhundert war der 20-fache Grand-Slam-Sieger in Hosen, Jerseys und Schuhen mit dem legendären Swoosh-Logo angetreten. 2018 unterschrieb Federer ziemlich überraschend beim Ausrüster Uniqlo. Da die Japaner keine Tennisschuhe herstellen, war der Weg zum Zürcher Start-up geebnet. Ein früherer Nike-Manager hat den Abgang des Schweizers vor kurzem als »Gräueltat« bezeichnet. Dazu hätte es seiner Ansicht nach nie kommen dürfen. Ein nachvollziehbares Bedauern: Schliesslich hätte die Strahlkraft Federers dem Branchenprimus – ähnlich wie bei Michael »Air« Jordan – wohl auch nach dem Karriereende sehr nutzen können.