Zeitgeist

Vinyl-Schallplatten: Alte Scheiben in neuem Glanz

Die Digitalisierung hat die Musikindustrie wie kaum einen anderen Wirtschaftszweig verändert. Doch inmitten des Streamingbooms erleben Vinyl-Schallplatten seit Jahren eine globale Renaissance.

Am 17. Juni macht eine der erfolgreichsten und legendärsten Bands aller Zeiten Halt in Bern. Die Rolling Stones treten im Wankdorf-Stadion auf. An dem Konzert im Rahmen der Tournee zum 60. Bühnenjubiläum dürfte die Gruppe um den 78-jährigen Frontmann Mick Jagger mit Klassikern wie »Satisfaction«, »The last time« oder »You can’t always get what you want« für Begeisterung sorgen.

Die Discografie der Rolling Stones ist nicht nur gespickt mit Welthits, sie führt auch den Wandel der Musikindustrie anschaulich vor Augen. 1964 veröffentlichte die Band ihr erstes Album, selbstverständlich auf Vinyl. In den Achtzigerjahren löste die Compact Disc (CD) Schallplatte und Musikkassette (MC) ab. Die Stones brannten ihre Songs im digitalen Format auf die silbernen Scheiben. Als nach der Jahrtausendwende diverse Online-Musikportale starteten, waren sie dort von Anfang an mit ihren Songs präsent.

Trotz der skizzierten Disruption erleben die physischen Tonträger eine Renaissance – die erstaunlicherweise fast zeitgleich mit dem Aufkommen des kommerziellen Streamings vor rund 15 Jahren ihren Lauf nahm. Natürlich tragen die Rolling Stones dieser Entwicklung Rechnung. In ihrem offiziellen Store führen die Briten eine eigene Rubrik »Vinyl«. Beispielsweise haben sie dort die LP »Tattoo You« zum 40. Jubiläum der Platte 2021 ins Regal gestellt.

Wachstum in der Nische
Viele Schweizer teilen die Begeisterung für die schwarze Scheibe, aus deren Rillen die Nadel des Plattenspielers Musik holt. 2021 wurden hierzulande 4,8 Millionen Schweizer Franken mit Vinyl-Langspielplatten umgesetzt, 18 Prozent mehr als im Vorjahr. Laut dem Branchenverband IFPI war das der höchste Umsatz seit 1991. Global betrachtet ist das Segment zuletzt sogar um mehr als die Hälfte gewachsen. Sowohl in der Schweiz als auch international ist der Vinyl-Anteil am Musikgeschäft zwar nach wie vor klein. In dieser Nische fühlen sich aber nicht nur die Rolling Stones, sondern auch immer mehr jüngere Künstler pudelwohl.

Das gilt auch für Adele. Im vergangenen November ist »30«, das vierte Album des britischen Pop-Superstars erschienen. Obwohl noch keine zwei Monate am Markt, führt diese Platte die globalen Vinyl-Charts für 2021 an. Laut IFPI wurden bis Silvester 862.000 Stück verkauft. Unter den Top 10 finden sich neben Neuerscheinungen auch mehrere Klassiker. Beispielsweise landete »Rumors«, ein vor 45 Jahren erstmals erschienenes Meisterwerk von Fleetwood Mac, mit knapp 350.000 verkauften Scheiben auf Rang 3.

Frei von Moll-Tönen ist das Vinyl-Geschäft nicht. Das Fachmagazin »MINT« spricht in einem Rückblick auf 2021 sogar von »33 Risiken pro Minute«. Betitelt mit dieser Anspielung auf eine Drehzahl der Plattenspieler thematisiert die Publikation die steigenden Preise für die Musikfans und die langen Wartezeiten für die Künstler. Viele Presswerke sind an ihre Kapazitätsgrenze gestossen. Das Magazin nennt zwei Flaschenhälse: Zum einen können die Produzenten schlicht nicht mehr mit der Nachfrage Schritt halten. Da die Fertigung handwerklich geprägt ist, liessen sich die Abläufe kaum automatisieren. Ein Übriges tut die allgemeine Rohstoffknappheit. Sie betrifft sowohl den Kunststoff PVC, auf dem Schallplatten gepresst werden, als auch Papier und Pappe, das Material für Cover und Verpackungen. Nach Ansicht von Ivo Sacchi, Präsident IFPI Schweiz, wäre im inländischen Vinyl-Geschäft ohne die globalen Produktionsengpässe 2021 vielleicht sogar der doppelte Umsatz möglich gewesen.

Digitaler Preiskatalog
Kaum einen Einfluss hat die Lieferketten-Problematik auf den Sammlermarkt. Ähnlich wie Oldtimer, Münzen oder Briefmarken werden für rare Schallplatten hohe Preise bezahlt. Für einen Überblick sorgt dabei seit knapp zwei Jahrzehnten ein Schweizer: 2004 hat Philipp Wegmüller popsike.com live geschaltet. Der Informatiker war schon damals ein leidenschaftlicher Plattensammler. Allerdings störte ihn der Mangel an Transparenz bei Plattenbörsen sowie in Preiskatalogen. »Ich zumindest war regelmässig aufgeschmissen, weil ich nie sicher sein konnte, wie reell der aufgerufene Preis war«, erklärte Wegmüller unlängst im Gespräch mit »MINT«. Kurzerhand programmierte der Zürcher ein Archiv, das ebay-Auktionen mit Vinyl-LPs zusammenträgt.

Wertvolle Raritäten
»Diese Website hat zur Transparenz beigetragen, indem sie zeigt, welche Platte wann zu welchem Preis verkauft worden ist«, bringt Wegmüller das Prinzip seiner Seite in dem Fachmagazin auf den Punkt. Mittlerweile umfasst popsike.com die Ergebnisse von mehr als 20 Millionen Auktionen. Insofern bietet die Seite auch für Laien einen interessanten Einblick in das Vinyl-Universum. Wenige Klicks reichen, um die wertvollsten Scheiben zu entdecken. Im September 2013 wechselte für stattliche 37.100 US-Dollar die LP »Alcohol and Jake Blues/Ridin’ Horse« von Tommy Johnson auf ebay den Besitzer. Die Rolling Stones haben es auf popsike.com unter die Top 50 geschafft. Ihre Single »Street Fighting Man London« wurde im Herbst 2020 für 18.100 US-Dollar versteigert. Übrigens: Die Chancen stehen gut, dass die Fans diesen politischen Song aus dem Jahr 1968 in Bern live zu hören bekommen. Er hat auf den Setlists der Band einen festen Patz.